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Die moderne Verhaltensforschung bedient sich zahlreicher Tiermodelle zur Überprüfung verschiedenster Fragestellungen. In der Forschung werden Hühnerküken, Zebrafinken, aber auch Haustauben als „animal model“, d.h. als Modellorganismus, herangezogen. Die Haustaube eignet sich aufgrund ihrer großen Rassevielfalt, der einfachen Haltung und hohen Reproduktionsrate besonders als Modellorganismus für wissenschaftliche Untersuchungen. Neben ethologischen Aspekten, wie z.B. einem guten Orientierungsvermögen, macht sie eine anatomische Besonderheit des visuellen Systems bei Vögeln für Untersuchungen zur Lateralisation, d.h. zur Arbeitsteilung im Gehirn, besonders geeignet. Bei Vögeln überkreuzen sich die Nerven der Sehbahnen beider Augen im Chiasma opticum vollständig (Rogers, 1996; König & Liebich, 2001; Deng & Rogers, 2002: Abb.1).


Abbildung 1: Schematische Darstellung der sich überkreuzenden Sehnerven

Daraus resultiert eine fast ausschließlich visuelle Informationsverarbeitung in der gegenüberliegenden Hirnhemisphäre (Nottelmann et al., 2002). So bedingt die Entnahme einer Großhirnhemisphäre bei der Taube u. a. eine Blindheit auf dem gegenüberliegenden Auge (Müller, 1833). Durch das Abdecken eines der beiden Augen mit Hilfe einer Augenkappe, kann somit die dazugehörige Hirnhemisphäre optisch "ausgeschaltet" werden.
Bei einer Vielzahl von Untersuchungen, die sich der Haustaube als Modellorganismus bedienen, werden häufig wichtige Aspekte außer Acht gelassen, so z.B. die Rassezugehörigkeit, bzw. welchem Geschlecht und welcher Altersgruppe die untersuchten Tauben angehören, sowie die Aufzuchtshistorie der einzelnen Experimentaltiere. So wird das Alter der Experimentaltiere oft nur mit „ausgewachsen“ betitelt, das Geschlecht nur selten berücksichtigt und Ergebnisse verschiedener Taubenrassen werden pauschalisiert, ohne näher auf rassetypische Besonderheiten einzugehen. Hierbei werden die Ergebnisse zu Lasten der enormen Biodiversität der Haustaube verallgemeinert, obwohl allein in Deutschland etwa 300 verschiedene Rassen bekannt sind. Ausgehend von dieser Rassevielfalt sowie verschiedener Aufzuchtshistorien und Altersgruppen wird im Rahmen der vorliegenden Studie ein interessanter Querschnitt durch das Verhaltensrepertoire der Haustaube erwartet.

Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, den Einfluss verschiedener Faktoren, wie die Rassezugehörigkeit, das Geschlecht, die Aufzuchtskondition und das Alter auf das Verhalten in standardisierten Testverfahren zu überprüfen. Zusätzlich wurde, die Lateralisation spezifischer Verhaltensweisen untersucht. Dabei wurden die drei Taubenrassen Altorientalisches Mövchen, Texaner und Brieftaube untersucht (Abb. 2).


Abbildung 2: Die drei untersuchten Taubenrassen: Altorientalisches Mövchen, Texaner und Brieftaube.

Zur Untersuchung verschiedener Fragestellungen wurden zwei standardisierte Testverfahren eingesetzt, eine multiple choice Arena und ein sogenanntes Rechteck. Die multiple choice Arena dient dazu Wahlexperimente durchführen zu können, wobei die Präferenzbildung gegenüber Artgenossen getestet werden kann. Dabei wird das Wahlverhalten eines Fokustieres beobachtet, welchem lebende Stimulustiere präsentiert werden. Das Rechteck ist ein typischer Testaufbau für Orientierungsexperimente. In diesem definiertem Raum kann die Orientierung der Taube sowohl an der räumlichen Geometrie, als auch anhand von Landmarken untersucht werden.
Bei Tauben als Nesthockern ist die Eltern-Kind-Beziehung von besonderer Bedeutung. Deshalb wurde dieser Verhaltenskomplex in einem experimentellen Zusammenhang, in der multiple choice Arena, überprüft. Weiter war es von Interesse, ob bekannte gegenüber unbekannten Sozialpartnern bevorzugt werden, und ob die Taube zwischen der eigenen und einer Vergleichsrasse unterscheiden kann. Auch im Kontext der Sexualpartnerwahl wurden dem Bekanntheitsgrad der Tauben zueinander, sowie der Rassezugehörigkeit Rechnung getragen. Als monogame Vogelspezies wurde die Bindung der Haustaube zu dem eigenen Partner im Speziellen untersucht.



Abbildung 3: Multiple choice am Wissenschaftlichen Geflügelhof

Ausgehend von verschiedenen Prägungshistorien wurden Wahlexperimente mit Tauben in einer multiple choice Arena durchgeführt (N = 143; Abb. 3). Dabei wurden die Tauben vom Zeitpunkt des Verlassens des Nestes (25 Tage) bis zur Geschlechtsreife (6 Monate) beobachtet. Den untersuchten Fokustieren wurden, je nach Fragestellung, verschiedene Stimulustiere in den Ecken der Arena präsentiert. Dabei wurde beobachtet wie lange sich das untersuchte Fokustier in der Nähe der verschiedenen Stimulustiere aufhielt.


Abbildung 4: Links: Ergebnisse zur Sexualpartnerwahl unter der binokularen Sichtbedingung. Die Stichprobe umfasst alle untersuchten Fokustiere, unabhängig von Geschlecht, Rasse und Aufzuchtkondition (N=136). Rechts: Ergebnisse zur Elterntiererkennung von Jungtieren aller drei Rassen und beider Geschlechter und Aufzuchtkonditionen unter der binokularen Sichtbedingung (N=144). Dargestellt ist die Aufenthaltsdauer in Prozent bei den jeweiligen Vergleichsgruppen (z.B. Elterntiere gegen andere Stimulustiere). Jeder der Balken, welche bei 1 beginnend nach abnehmender Länge der Aufenthaltsdauer bei Eltern- bzw. Ziehelterntieren sortiert sind, repräsentiert ein Jungtier. Ein abschließender Balken stellt die entsprechenden Mittelwerte dar. Signifikanzen werden durch * gekennzeichnet.


Die Ergebnisse der Wahlexperimente zeigen eine Präferenz für potentielle Sexualpartner der eigenen Rasse (p ≤ .001; Abb. 4 links). Dieses Verhalten zeigte sich unabhängig von der Aufzuchtsvorgeschichte. Während der Aufzucht erkennen Jungtiere ihre Elterntiere auch dann, wenn es sich dabei um Ammen einer Vergleichsrasse handelt (p = .005; Abb. 4 rechts). Sowohl die Elterntiererkennung als auch eine Präferenzausbildung im Hinblick auf einen möglichen Sexualpartner erfolgten ausschließlich unter der binokularen Sichtbedingung und unter keiner monokularen. Diese Ergebnisse lassen den Rückschluss zu, dass bei der Taube das binokulare Gesichtsfeld, und somit beide Hirnhemisphären, für die Individualerkennung essentiell ist.
Ein besonderes Interesse im Rahmen eines Orientierungsexperimentes lag darauf, inwieweit Tauben die Geometrie des Raumes und die Anordnung von Landmarken lernen und diese Information in verschiedenen Testsituationen nutzen können. Eine Untersuchung zur räumlichen Wahrnehmung wurde in einem Rechteck (1 m x 2 m), als ein standardisiertes Testverfahren, ebenfalls an den genannten Taubenrassen durchgeführt (Abb. 5). Dabei wurden Tauben (N = 81) dreier verschiedener Altersstufen untersucht, diese wurden in junge (35 Tage), mittelalte (3 bis 5 jährig) und alte (min. 9 Jahre) Tiere unterteilt. Um ein erlerntes Ziel aufzufinden, standen den Tauben zur Orientierung sowohl Landmarken (in Form von farbigen Symbolen) als auch die Geometrie des Raumes zur Verfügung. Zur Auswertung wurde die Anzahl an Wahlen der einzelnen Ecken herangezogen. In verschiedenen Tests wurde die Position und/oder Anzahl der Landmarken verändert, um so Rückschlüsse auf die Orientierungsstrategien der Taube schließen zu können.


Abbildung 5: Aufsicht auf das Rechteck am Wissenschaftlichen Geflügelhof. In jeder Ecke steht ein andersfarbiges Symbol sowie ein abgedeckter Napf.

Aufgrund der Ergebnisse lässt sich schlussfolgern, dass sich Tauben sowohl anhand von Landmarken als auch der Geometrie des Raumes orientieren. Die Entschlüsselung der Landmarken erfolgt in beiden Hirnhemisphären und ist der Geometrie übergeordnet. Eine Nutzung der geometrischen Informationen gelingt ausschließlich unter Einbeziehung der linken Hirnhemisphäre.
Diese Ergebnisse der Experimente legen nahe, dass spezielle Verhaltensweisen lateralisiert sind, andere wiederum nur unter der Benutzung beider Hirnhemisphären funktionieren, wie z.B. die Sexualpartnerwahl. Rasseinterne Verpaarungen werden bevorzugt, auch dann, wenn die kindliche Prägung auf eine andere Rasse gerichtet war. Damit beeinflussen genetische Faktoren primär das Verhalten, während sich Erfahrungen erst sekundär auswirken. Auch wenn die Taube schon seit mehreren Tausend Jahren domestiziert ist, birgt sie noch viele Geheimnisse in sich. Aber gerade diese offenen Fragen, sowie die enorme Vielschichtigkeit, die im Verhalten und im Phänotyp der Haustaube auftreten, machen sie zu einem interessanten Modellorganismus.

Literaturverzeichnis:
    •    Deng, C., Rogers, L. 2002. Factors affecting the development of lateralization in chicks. In: Comparative Vertebrate Lateralization (Ed. by L. Rogers & R. J. Andrew). Cambridge: Cambridge University Press.
    •    König, Liebich, 2001: Anatomie und Propädeutik des Geflügels. – F.K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart.
    •    Müller, J., 1833: Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, Band 1. – Verlag von J. Hölscher, Coblenz.
    •    Nottelmann, F., Wohlschlager, A., Güntürkün, O., 2002: Unihemispheric memory in pigeons-knowledge, the left hemisphere is reluctant to share. – Behavioural Brain Research 133, 309-315.
    •    Rogers, L., 1996: Behavioral, structural and neurochemical asymmetries in the avian brain: A model system for studying visual development and processing. – Neuroscience and Biobehavioral Reviews 20, 487-503.


Dipl. Biol. Mareike Fellmin

Betreuer: Prof. Dr. Bettina Pause, Institut für Experimentelle Psychologie & Prof. Dr. Gerd Rehkämper, Institut für Anatomie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf